Essen ist politisch geworden – und eine Frage des Geldbeutels.

Während Deutschland über die Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse diskutiert, schaffen die Versorgungsdaten eine neue Realität: Der Pro-Kopf-Verzehr von Fleisch sank im Jahr 2024 auf ein historisches Tief von 50,8 Kilogramm². Gleichzeitig geben mittlerweile 57 Prozent der Verbraucher an, beim Lebensmitteleinkauf primär auf den Preis zu achten – ein signifikanter Anstieg um 12 Prozentpunkte im Vergleich zum Jahr 2021¹.

Dieser Bericht analysiert die Diskrepanz zwischen gesundheitlichem Anspruch und ökonomischer Realität. Wir zeigen, wie sich der „Flexitarismus“ als neuer Mainstream etabliert, warum die Adipositas-Raten trotz Bio-Boom stagnieren und welche volkswirtschaftlichen Kosten durch Fehlernährung entstehen. Norvio modelliert hierfür Daten aus den Jahren 2020 bis 2025 zu einem Gesamtbild der deutschen Ernährungslage.

Entwicklung: Die stille Proteinwende

Der markanteste Trend der letzten fünf Jahre ist der Rückgang des Fleischkonsums. Lag der Pro-Kopf-Verzehr 2018 noch bei über 60 Kilogramm, unterschritt er 2024 erstmals deutlich die Marke von 51 Kilogramm². Dies entspricht einem rechnerischen Rückgang von rund 16 Prozent innerhalb eines halben Jahrzehnts. Die Treiber dieser Entwicklung sind vielfältig: In aktuellen Befragungen bezeichnen sich fast 48 Prozent der Bevölkerung als Flexitarier, die ihren Fleischkonsum bewusst reduzieren, ohne gänzlich zu verzichten¹.

Parallel dazu wächst der Markt für pflanzliche Alternativen, jedoch flacht die Wachstumskurve ab. Nach zweistelligen Zuwachsraten in den Jahren 2020 bis 2022, stabilisierte sich der Absatz von Fleischersatzprodukten zuletzt auf hohem Niveau. Der Anteil der rein vegetarisch oder vegan lebenden Menschen bleibt mit 10,4 Prozent der Gesamtbevölkerung eine signifikante, aber langsam wachsende Gruppe¹. Die wirkliche Veränderung findet in der Mitte der Gesellschaft statt: Der Teller wird statistisch gesehen grüner, aber er bleibt hybrid.

Key Facts zur Entwicklung:

  • 50,8 kg Fleischverzehr pro Kopf (Historisches Tief)²
  • 48 % Anteil der Flexitarier an der Gesamtbevölkerung¹
  • 10,4 % Vegetarier und Veganer (kombiniert)¹
  • +7 % Absatzsteigerung bei Hafer- und Mandeldrinks (Jahresvergleich)⁸
  • 32 % der Befragten kochen täglich frisch (Rückgang zu 2021)¹

Verschiebung der Proteinquellen (2015–2025)

Diagramm: Verschiebung der Proteinquellen  in Deutschland 2015–2025
Datenbasis: BLE, Destatis, eigene Berechnung und Prognose

Datenlage: Anspruch vs. Wirklichkeit

Wissenschaftliche Standards definieren mittlerweile, dass mindestens 75 Prozent der Nahrungsenergie pflanzlichen Ursprungs sein sollten⁷. Die Realitätsdaten zeigen jedoch eine massive Lücke zwischen Soll und Ist. Lediglich 14,8 Prozent der Erwachsenen erreichen die empfohlene Menge von fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag³. Bei Jugendlichen liegt dieser Wert sogar unter der 10-Prozent-Marke³.

Ein besorgniserregender Trend zeigt sich beim Zucker: Zwar sinkt der Absatz klassischer Haushaltszucker, doch der Konsum versteckter Zucker in verarbeiteten Lebensmitteln hält den Pro-Kopf-Verzehr bei rund 33 Kilogramm jährlich – fast das Doppelte der maximalen Empfehlung internationaler Gesundheitsorganisationen¹. Unsere Auswertung zeigt, dass 42 Prozent der täglichen Kalorienaufnahme auf hochverarbeitete Lebensmittel (Ultra-Processed Foods) entfallen, was direkt mit entzündlichen Prozessen und metabolischen Störungen korreliert³.

Soll-Ist-Vergleich der Nährstoffaufnahme (2025)

Diagramm: Soll-Ist-Vergleich der Nährstoffaufnahme (2025)
Datenbasis: DGE, RKI, MRI, eigene Modellierung

Kaufkraft: Inflation prägt den Speiseplan

Die Lebensmittelinflation der vergangenen Jahre wirkt nach. Aktuelle Berechnungen beziffern den Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel am verfügbaren Einkommen der Haushalte auf 15,8 Prozent, im Vergleich zu 13,9 Prozent im Jahr 2019⁴. Dies führt zu einer Polarisierung des Marktes. Während der Umsatz mit Premium-Bio-Produkten im Fachhandel stagnierte, wuchs das Segment der Bio-Eigenmarken im Discounterbereich um 8,5 Prozent⁸.

Preissensibilität dominiert zunehmend das Gesundheitsbewusstsein: In der Einkommensgruppe unter 2.500 Euro netto geben 64 Prozent an, aus Kostengründen weniger Obst und frische Produkte zu kaufen¹. Dies verschärft die gesundheitliche Ungleichheit. Die Daten zeigen eine klare Korrelation: In einkommensschwachen Bezirken liegt die Dichte an Fast-Food-Angeboten um den Faktor 3 höher als in wohlhabenden Vierteln, während das Angebot an Frischemärkten um 40 Prozent geringer ausfällt³.

Gesundheit & Belastung: Die Adipositas-Kurve

Trotz Proteinwende und Gesundheitsapps verbessert sich der objektive Gesundheitszustand der Bevölkerung kaum. Die Datenlage ist eindeutig: 53,5 Prozent der Erwachsenen weisen ein Körpergewicht oberhalb der Norm auf, 19 Prozent gelten als adipös³. Bei Männern liegt die Übergewichtsquote mit 60,5 Prozent signifikant höher als bei Frauen³. Besonders alarmierend ist die Entwicklung bei Typ-2-Diabetes: Die Prävalenz stieg auf 9,2 Prozent der Bevölkerung, wobei immer häufiger auch jüngere Menschen unter 40 Jahren betroffen sind⁵.

Ernährungsbedingte Krankheiten sind keine individuellen Schicksale, sondern statistische Wahrscheinlichkeiten. Unsere Modellierung zeigt, dass der hohe Konsum von gesättigten Fettsäuren, Salz und Zucker für 28 Prozent der verlorenen gesunden Lebensjahre (DALYs) verantwortlich ist³. Die Schere geht auseinander: Ein Teil der Bevölkerung optimiert die Ernährung bis ins Detail, während die breite Masse durch das obesogene Umfeld an Gewicht zulegt.

Entwicklung Adipositas & Diabetes (2015–2025)

Diagramm: Entwicklung Adipositas & Diabetes (2015–2025)
Datenbasis: RKI (GEDA), Deutsche Diabetes Hilfe, AOK

Ökonomische Auswirkungen: Die Kosten der Fehlernährung

Fehlernährung belastet das Gesundheitssystem massiv. Basierend auf Gesundheitsausgabenrechnungen belaufen sich die direkten Behandlungskosten für ernährungsmitbedingte Erkrankungen wie Adipositas, Diabetes und koronare Herzkrankheiten im Jahr 2024 auf rund 19,4 Milliarden Euro⁴. Hinzu kommen indirekte Kosten durch Arbeitsausfälle und Frühverrentung, die in aktuellen Modellen auf weitere 44 Milliarden Euro geschätzt werden⁶.

Interessant ist der volkswirtschaftliche Hebel: Modellrechnungen ergeben, dass eine Reduktion des Salzkonsums um 30 Prozent und des Zuckerkonsums um 20 Prozent das Gesundheitssystem bis 2030 um jährlich 3,5 Milliarden Euro entlasten würde. Die Investition in gesunde Schulverpflegung und Aufklärung hat einen berechneten Return on Investment von 1:4 – jeder investierte Euro spart langfristig vier Euro an Folgekosten ein.

Demografie: Der Gender- & Generation-Gap

Ernährung ist in Deutschland eine Frage des Alters und des Geschlechts. Während Frauen im Schnitt fast doppelt so viel Obst verzehren wie Männer, essen Männer fast doppelt so viel Fleisch- und Wurstwaren (täglich ca. 103 Gramm vs. 54 Gramm)². Der sogenannte „Meat Gap“ schließt sich nur sehr langsam.

Noch deutlicher ist der Generationenriss. In der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen ernähren sich bereits 22 Prozent vegetarisch oder vegan¹. In der Gruppe über 60 Jahren liegt dieser Anteil dagegen bei unter 4 Prozent¹. Für die Lebensmittelindustrie bedeutet dies eine disruptive Fragmentierung: Sie muss gleichzeitig die traditionelle Nachfrage bedienen und die pflanzenbasierte jüngere Zielgruppe abholen, die zudem hohe Ansprüche an Nachhaltigkeit und Transparenz stellt.

Demografie: Gender- & Generation-Gap in der Ernährung

Diagramm: Unterschied im Fleischkonsum nach Geschlecht sowie Anteil vegetarisch/vegan nach Altersgruppen
Datenbasis: RKI, BLE, Destatis, eigene Modellierung

Fazit & Ausblick

Der Ernährungsreport 2025 zeichnet das Bild einer Gesellschaft im Übergang. Die kulturelle Dominanz des Fleisches ist gebrochen, doch der Weg zu einer flächendeckend gesunden Ernährung ist durch ökonomische Hürden versperrt.

Die Daten belegen, dass Appelle an die Eigenverantwortung an ihre Grenzen stoßen. Solange hochverarbeitete, zuckerreiche Lebensmittel günstiger und verfügbarer sind als frische Alternativen, werden Adipositas und Diabetes weiter steigen. Die „Proteinwende“ ist real, aber sie ist bisher vorwiegend ein Phänomen der urbanen und akademischen Milieus.

Für 2026 prognostizieren wir eine weitere Diversifizierung. Hybrid-Fleischprodukte (Mischungen aus tierischem und pflanzlichem Protein) und Fermentationsprodukte werden Marktanteile gewinnen. Die entscheidende Variable bleibt die Kaufkraft: Ohne politische Steuerung – etwa durch Mehrwertsteueranpassungen oder Subventionen für Obst und Gemüse – droht eine Ernährungsklassengesellschaft.

Kernfrage für die Zukunft:

Schaffen wir es, gesunde Ernährung von einem Luxusgut zu einem Standard für alle zu machen – unabhängig vom Einkommen?

Praktische Empfehlungen

Basierend auf den ausgewerteten Daten ergeben sich folgende Handlungsfelder für Politik, Wirtschaft und Verbraucher.

Evidenzbasierte Handlungsempfehlungen:

  • Preisanreize setzen: Mehrwertsteuerbefreiung für Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte zur Entlastung unterer Einkommensgruppen.
  • Verpflichtende Standards in der Gemeinschaftsverpflegung: DGE-Qualitätsstandards müssen in Kitas, Schulen und Kantinen bindend sein.
  • Reformulierung beschleunigen: Verbindliche Zielvorgaben für die Industrie zur Reduktion von Zucker und Salz in Fertigprodukten.
  • Ernährungskompetenz stärken: Integration von Ernährungsbildung und Kochen als festes Schulfach, um dem Kompetenzverlust entgegenzuwirken.
  • Werbebeschränkungen: Konsequenter Schutz von Kindern vor Werbung für Lebensmittel mit ungünstigem Nährwertprofil.
  • Nudging am POS: Supermärkte sollten gesunde Optionen auf Augenhöhe und an der Kasse platzieren.

Quellenverzeichnis

  1. BMEL (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft) – Ernährungsreport, Berlin
  2. BLE (Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung) – Versorgungsbilanz Fleisch
  3. RKI (Robert Koch-Institut) – Journal of Health Monitoring, Ernährungsverhalten und Adipositas in Deutschland
  4. Destatis (Statistisches Bundesamt) – Konsumausgaben privater Haushalte für Nahrungsmittel
  5. Deutsche Diabetes Hilfe – Gesundheitsbericht Diabetes
  6. OECD / European Observatory on Health Systems – State of Health in the EU: Germany
  7. DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) – DGE-Ernährungsbericht
  8. GfK / NIQ – Consumer Panel FMCG